Steffis „Leseleckerbissen“ im Oktober ist
„October, October. Die weite, wilde Welt wartet auf mich„
Herzlichen Glückwunsch, Katya Balen und Angela Harding sowie den Hanser Literaturverlagen!
Jeden pro Monat prämiert jede von uns ein besonders herausragendes Buch mit dem „Leseleckerbissen“ – einer kleinen Auszeichnung, mit der wir nicht nur unsere Leser*innen, sondern auch die Autor*innen und Illustrator*innen sowie Verlage überraschen möchten. Und übrigens auch uns gegenseitig, denn keiner von uns beiden weiß vorab etwas von dem wunderbaren Buch, dass die andere sich als Leseleckerbissen des Monats ausgesucht hat.
Stimmungsvoll. Und sehr ungewöhnlich. So würde ich das Buch von Katya Balen beschreiben, dass, passend zum Titel, mein Leseleckerbissen im Oktober geworden ist. Denn nicht nur October, die Protagonistin in “October, October”, ist etwas ganz Besonderes, auch ihr Lebensstil, die familiären Verhältnisse und die Veränderung, die sie im Laufe der Erzählung durchlebt, sind nicht alltäglich. Und dadurch wird die gesamte Geschichte mit ihrem unkonventionellen Stil und der einnehmenden Atmosphäre, den interessanten Charakteren und ihren vielseitigen Gefühlsregungen, die man, eingesogen vom Verlauf der Geschichte, beim Lesen selber miterlebt, auch etwas ganz Besonderes. So wie es bei einem echten Leseleckerbissen einfach sein soll.
“October, October. Die weite, wilde Welt wartet auf mich” von Katya Balen und Angela Harding (Illustrationen), übersetzt aus dem Englischen Birgitt Kollmann. Erschienen 2023 im Carl Hanser Verlag. 224 S., ab 12 Jahren.
Schon auf den ersten Seiten hatte mich dieses Buch, das es schafft, den Tod eines Tieres derart poetisch, stimmungsvoll und interessant zu beschreiben, dass ich mich direkt in die Situation und Atmosphäre hineingezogen gefühlt habe. Dorthin, wo die elfjährige October und ihr Vater gerade sind: Im Wald, eine tote Eule in den Händen und versunken in den Augenblick.
Ein eigenwilliges Mädchen, naturverbunden, wild und frei …
October ist ein naturverbundenes und neugieriges Mädchen, sucht gerne Schätze im der Natur und schafft sich damit ihre eigene Welt der Geschichten und Fantasien. Mit ihrem eigenwilligen Blick auf die Welt, tierlieb und interessiert lebt sie mit ihrem Vater relativ isoliert und in einfach Verhältnissen, jenseits der Gesellschaft, im Wald. Dort im Wald, dem Ort der Verborgen-, Vergessen- und der Geborgenheit, ist October glücklich und ausgeglichen. Sie braucht nicht viel mehr als ihrem Vater bei den alltäglichen Aufgaben zu helfen und in dieser Umgebung zu sein, denn ihr gemeinsames Leben gibt ihr die Möglichkeit frei und wild zu sein, was sie in der Stadt mit all den Reizen, zivilisatorischen “Annehmlichkeiten” und gesellschaftlichen Strukturen nicht könnte.
Die Frau, die Octobers Mutter ist (so spricht October selber über ihre Mutter) hat früher auch mit ihrem Vater und October im Wald mit gelebt, diese Welt aber verlassen, als October 4 Jahre alt war. October lehnt ihre Mutter ab und vermeidet jeden möglichen Kontakt zu ihr, weil sie den Wald, den October als Zuhause bezeichnet, und die Familie verlassen hat.
Doch als ihr Vater einen Unfall hat und ins Krankenhaus muss, muss October zu ihrer Mutter in die Stadt und sich nicht nur mit ihren Gefühlen der Mutter gegenüber sowie dem Verhältnis zu ihr auseinandersetzen, sondern auch mit der neuen, gänzlich anderen Umgebung, den gesellschaftlichen Strukturen und Regeln, der Schule und anderen Kindern. Das ist für October aufgrund ihrer bisherigen zurückgezogenen Lebensweise schwierig, aber auch, weil sie besonders zu sein scheint und mit ihrer Mutter und der Umgebung zunächst überhaupt nicht umgehen kann. Doch October wächst über sich hinaus…
… lebt isoliert von der Gesellschaft mit ihrem Vater im Wald …
Neben der Neurodiversität Octobers, die sie in der Gesellschaft zu einer Außenseiterin macht, werden auch in diesem interessant erzählten Roman auch alternative Lebens- und Lernweisen, schwierige Familienkonstellationen, Naturverbundenheit und die Konfrontation mit der konventionellen Gesellschaft und die Kritik an der modernen Lebensführung thematisiert.
Während die Gestaltung des Covers sicher auf unterschiedliche Meinungen stoßen wird – für den einen zu romantisch, für den anderen wundervoll verträumt – sind es die stimmungsvollen Naturbeschreibungen voller lyrischer Metaphern und der interessante Erzählstil, der einen fesselt.
Durch die Erzählung im Präsens wird eine Stimmung geschaffen, die sich voll auf das Jetzt bezieht und dadurch die Aufmerksamkeit beim Lesen ganz in den Moment holt. Gestaltet als ein innerer Monolog erleben wir beim Lesen die Geschehnisse aus Octobers Sicht und werden in ihre ungewöhnliche Gedanken- und Gefühlswelt mitgenommen. Dies spiegelt sich auch im Schriftbild wieder: Es wird keine wörtliche Rede verwendet, sondern stattdessen eine kursive Schreibweise benutzt, um das Sprechen von Personen aufzuzeigen. Bestimmte Gedanken und Emotionen, Beschreibungen von Situationen und Erinnerungen werden im Textbild mit Lücken, Sprüngen oder Verschiebungen von Worten in den Zeilen dargestellt, wodurch uns Octobers besondere Art des Denkens und Fühlens vermittelt werden soll.
… und muss plötzlich in die Stadt und zur verhassten Mutter ziehen.
Die Eule als Metapher für Naturverbundenheit und Freiheit Octobers zieht sich inhaltlich und auch bildlich als kleine Schwarz-Weiß-Skizzierungen durch das Buch. Sie zeigt uns die wilde, ungewöhnliche, aber auch verletzliche Seite Octobers.
Ein wundervoller, berührender Roman, der ein Plädoyer für mehr Freiheit und Wildheit in unserem Leben ist, der zeigt, was passieren kann, wenn man sich Menschen und Orten gegenüber öffnet und der Mut macht:
Mut zu alternativen Lebensformen und Lebensweisen, die möglicherweise nicht gesellschaftlich anerkannt sind, aber Menschen glücklich machen können.
Mut über sich hinauszuwachsen, sich schwierigen Situationen und negativen Gefühlen zu stellen.
Mut, sich Menschen wieder anzunähern, zu denen die Beziehung angespannt oder abgebrochen ist.
Mut, sein Herz zu öffnen.
Vor allem aber Mut man selber zu sein – unabhängig davon wie ungewöhnlich, besonders man ist.
Eine Herausforderung für die neurodiverse October, die eine große Veränderung durchlebt…
Ein Kritikpunkt an dem Buch habe ich: In einer Szene wird beschrieben, wie October und ihr Vater den Wald pflegen und formen mit der Begründung, dass er nur durch ihr Eingreifen weiter wachsen und gedeihen würde. Ich würde mir wünschen, dass dieser Abschnitt überarbeitet wird, denn er ist scheinbar nicht richtig recherchiert worden. Wälder haben schon vor den Menschen existiert und sind ohne unser Eingreifen zu gesunden Urwäldern geworden. Erst der Mensch hat durch sein Eingreifen in den Lebenszyklus des Waldes zu Problemen in dem von alleine funktionierenden Ökosystems geführt.
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Vielen Dank, liebe Hanser Literaturverlage, für dieses beeindruckende Rezensionsexemplar – Werbung (Markennennung), unbezahlt und unbeauftragt